Zu Beginn gab Dr. Cepinskyte einen kurzen Überblick über die in der Arktis relevanten Akteure und die institutionelle Rahmenordnung um den Arktischen Rat. Dieser setzt sich aus acht Mitgliedsstaaten, sechs Vertretungen indigener Völker, sechs Arbeitsgruppen sowie Beobachterstaaten und -organisationen zusammen. Der Vortrag teilte sich danach in drei Teile, der anhand von exemplarischen Akteuren die Rolle der arktischen Staaten, nicht-arktischen Staaten und indigenen Völkern beleuchtete.
Die Arktis war über lange Zeit eine Region des Friedens und der Kooperation, die regelrecht immun gegenüber Konflikten wirkte. Seit den späten 2000ern sei hier allerdings ein Wandel zu beobachten. Neue Handelsrouten und bisher von Eis bedeckte Rohstoffvorkommen machen die Arktis zu einem Raum, der zunehmend das Interesse auf sich ziehe und in dem die Machtverhältnisse noch nicht geklärt seien. Den Fokus legte die Referentin hierbei zunächst auf Russland. Das größte Territorium innerhalb des Polarkreises gehört zu Russland und ein Großteil der Nord-Ost-Passage verläuft entlang der russischen Küste. Dr. Cepinskyte stellte dar, dass sich aus dem wachsenden Interesse Russlands, das sich 2008 erstmals als führende arktische Macht bezeichnete, über die Jahre ein Sicherheitsdilemma entwickelte. Russland baue kontinuierlich seine militärischen und zivilen Kapazitäten im arktischen Norden aus, was sich durch die Reaktivierung von Militärbasen aus der Sowjetzeit, vermehrten Übungen und auch der Anzahl an einsatzfähigen Eisbrechern ausdrücke. Russland besitzt gegenüber den anderen arktischen Staaten die größte Flotte an Eisbrechern, die gerade für eine sichere Schifffahrt im hohen Norden essentiell sind. Der sog. “Icebreaker Gap” stelle andere Akteure, insbesondere die USA, vor die Herausforderung, den Status Quo anzuerkennen, oder ihre militärischen Kapazitäten im arktischen Raum zu erhöhen. Hierbei zeige sich allerdings bereits ein großer Rückstand gegenüber Russland. So sei auch die jüngste und erstmalige Verlegung einer US-Bomberstaffel des Typs B-1 nach Norwegen zwar nicht Ausfluss einer größeren Strategie, aber ein weiterer Beleg für die zunehmende Militarisierung der Region.
Als Beispiel eines nicht-arktischen Staates, sprach Dr. Cepinsykte über das Engagement des Vereinigten Königreichs. Nachdem sich Großbritannien nach Ende des Kalten Krieges weitestgehend aus dem arktischen Raum zurückzog und sich dort primär auf Forschungsfragen konzentrierte, ist auch hier seit einigen Jahren ein zunehmendes Engagement feststellbar. 2018 wurde in diesem Zusammenhang die britische Arktisstrategie veröffentlicht, die einen Wechsel hin zu verteidigungspolitischen Fragestellungen bedeutete. In dieser Strategie spielt insbesondere die Marine eine entscheidende Rolle, deren Hauptaufgabe, die Sicherung von Handelsrouten, nun auch auf die Arktis ausgeweitet wurde. Die tatsächlichen Fähigkeiten der britischen Marine blieben bisweilen allerdings weit hinter den angestrebten Zielen zurück. Im Zuge des Brexit sei es zudem fragwürdig, inwieweit eine solche Strategie finanzierbar ist.
Als dritte und letzte Gruppe sprach die Referentin über die indigenen Bevölkerungen in der Region und über die Frage, wie sich die zunehmenden Aktivitäten im hohen Norden auf deren Lebensweise auswirke. Als besonders belastend für die Sicherheit der indigenen Gruppen wurden hier große Infrastrukturprojekte zur wirtschaftlichen Erschließung des hohen Nordens aufgeführt. Hier thematisierte sie zunächst das finnisch-norwegische Großprojekt der “Arctic Railway”, was das antizipierte Handelsaufkommen über die Nord-Ost-Route per Zugstrecke in den Rest Europas verteilen soll. Ein Großteil der Strecke verlaufe durch autonome Regionen indigener Völker und störe dabei besonders Lebens- und Jagdräume. Die Staaten befinden sich im Zwiespalt, die Autonomie der indigenen Völker zu gewährleisten, und gleichzeitig die wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Hier bleibe besonders zu beobachten, dass ein solcher Ausgleich nicht zu Lasten der dortigen Bevölkerung stattfinde.
Dr. Cepinsykte ging auch auf die Situation der Jamal-Nenzen in Russland ein, die exemplarisch für eine Vielzahl von indigenen Völkern auf russischem Territorium stehen. Auch wenn ihnen per Gesetz eine gewisse Teilautonomie, sowie der Zugang zu ihrem Land und natürlichen Ressourcen zugesichert werde, komme es durch die Erschließung der Gasvorkommen vermehrt zu Einschränkungen und Zurückdrängung. Insbesondere sei die kulturstiftende Rentierwirtschaft bedroht. Durch den Klimawandel und infrastrukturelle Umstrukturierung in der Region komme es vermehrt zu Unterbrechungen der Migrationsrouten der großen Rentierherden, an denen sich das Leben der dortigen indigenen Bevölkerung ausrichte. Für die russische Regierung ist die Region von großer Bedeutung, da dort nach Schätzungen etwa 80% der natürlichen Gasvorkommen Russlands lagerten. Es bleibe demnach abzuwarten, inwieweit die Bedürfnisse der indigenen Gruppen berücksichtigt würden. Dr. Cepinskyte zeigte sich allerdings pessimistisch und geht von einer zunehmenden Verschlechterung der traditionellen Lebensumstände aus.
Im Anschluss des Vortrags ergab sich eine vielseitige Fragerunde, die einige Problemstellungen aus dem Vortrag vertiefte, aber auch neue Themenfelder eröffnete. So wurden Fragen über die Rollen und Interessen Chinas, sowie Deutschlands und der EU thematisiert.
Der Vortrag zeichnete ein differenziertes Bild der Region und der involvierten Akteure. Insbesondere die Betrachtung indigener Völker stieß auf großes Interesse, da diese in der Betrachtung der Arktis sonst wenig Beachtung erfahren Die Hochschulgruppe Tübingen bedankt sich bei Dr. Agne Cepinskyte und den Teilnehmer:innen für einen spannenden und lehrreichen Abend.