Am 07. Dezember 2023 organisierten wir in Kooperation mit den JEF Tübingen (Hochschulgruppe der Jungen Europäischen Föderalisten) eine Sitzung zum Thema "Die EU und der Krieg zwischen Israel und der Hamas". Die Relevanz des Themas steht außer Frage, und wir freuten uns, die Interessen beider Hochschulgruppen - EU und Sicherheitspolitik - mit einer so wichtigen und aktuellen Frage unter einen Hut bringen zu können. Zu Beginn erläuterte uns Liz den Ursprung und die historische Entwicklung des Konflikts, danach nahmen Liz, Vera und Leonie beispielhaft vier EU-Mitgliedstaaten und ihre Positionierung im Konflikt in den Fokus: Irland, Ungarn, Deutschland und Frankreich. Hier wurden uns die großen Differenzen der einzelnen Länder bewusst, was uns Leonie mit einem Blick auf die EU-Spitze und ihre unkoordinierte Reaktion noch verdeutlichte. Zuletzt zeigte Vera, dass diese internen Uneinigkeiten die EU daran hindern, zu dem zentralen Akteur in der Region zu werden, der sie sein möchte. Vielen Dank für Euer Interesse und die zahlreiche Teilnahme, und nochmals vielen Dank an die JEF für die tolle Zusammenarbeit!
Am Montag, den 05.07.21 fand eine Kooperationsveranstaltung der Tübinger Hochschulgruppe zusammen mit der Deutschen Atlantischen Gesellschaft statt. Bei der ersten hybriden Veranstaltung seit Beginn der Coronapandemie durften wir Professor Dr. Gunter Schubert zu einem Gespräch mit dem Thema „Neoimperiale Politik? Chinas regionale und globale Ambitionen – und wie sich der „Westen“ dazu verhalten kann“ im Hesse Kabinett Tübingen empfangen. Das Gespräch moderierte Christian Gottschalk der Stuttgarter Zeitung.
Nach einer kurzen Begrüßung durch das Hesse Kabinett und zwei Vetreter:innen unserer Hochschulgruppe begann Herr Gottschalk mit einer Frage zum Inselkonflikt im Süd- aber auch Ostchinesischen Meer. Professor Schubert erklärte, dass Chinas Politik hier in den Konflikt mit internationalem Seerecht gerate, dieses aber hinter eigens definierte historische Rechte zurückstelle. Dieser historische Anspruch auf die Territorien werde auch konsequent verfolgt und werde weiterhin für Konflikte sorgen, wobei die Konfliktlage zwischen süd- und ostchinesischem Meer differenziert werden müsse.
Betrachte man die momentane Stimmung im Land, so sei diese aus der Ferne generell schwer wahrnehmbar. Sie sei allerdings grundsätzlich positiv und unterstützend gegenüber der Kommunistischen Partei und der Politik Xi Jinpings. Dieser habe China seit 2012 stark zentralisiert und alle Politikbereiche unter den Sicherheitsinteressen Chinas subsumiert. Da diese Strategie momentan allerdings weitestgehend aufgehe, genieße seine Politik eine große Legitimität innerhalb des chinesischen Volkes.
Das Gespräch wandte sich daraufhin der Beziehung Chinas zu den USA zu. Man befinde sich hier in einer Übergangsphase mit einer etablierten und einer aufstrebenden Weltmacht. Es sei ein Wettbewerb zwischen Hegemonialmächten, dessen Ausgang noch nicht entschieden sei. Die USA unter Biden bringen derzeit ihre Alliierten gegen China in Stellung, erhöhen ihre Militärpräsenz im Pazifik, seien China in seiner unmittelbaren Peripherie allerdings bereits unterlegen. China verfüge andererseits nicht über die Globalpräsenz der USA. Dieses Aufeinandertreffen von Militärmächten bietet laut Professor Schubert allerdings auch ein großes Risiko militärischer Eskalation. Dies zeige sich insbesondere an der Situation um Taiwan (Republik) China, in der Xi Jinping bei den Feierlichkeiten zum 100. Jubiläum der Kommunistischen Partei Taiwan als integralen Teil Chinas bezeichnete. Es bleibe allerdings fragwürdig, ob China in der Lage ist, eine erfolgreiche Invasion durchzuführen und ob das tatsächlich stattfinden werde. Auch im Bezug zu anderen Anrainerstaaten zeige sich Chinas Dominanz, indem jedes Land in der Peripherie stark von China abhängig ist. Sorgen um die eigene Sicherheit bestünden allerdings trotz dessen. Generell hielten sich die Staaten allerdings zurück, um nicht durch einseitige Positionierung zwischen den USA und China zerrieben werden.
Ein weiteres intensiv besprochenes Thema war das Projekt „Neue Seidenstraße“. Professor Schubert ist hier in der Bewertung vorsichtig. Zunächst sei es ein globales Infrastrukturprojekt, welches die Integration diverser Volkswirtschaften zum Ziel habe. Dabei handle es sich auch nicht um ein homogenes Projekt, sondern sei viel experimenteller und letztlich ein großer Flickenteppich von Innovationsprojekten. Ebenso sei auch die EU nicht abgeneigt, dass das Infrastruktur geschaffen wird, da es auch Zugang zu anderen Märkten erleichtern würde. Kritik an dem Projekt sei jedoch ernst zu nehmen. Die Schuldenfallen sind real, könnten aber auch mit grundsätzlichen strukturellen Problemen der Entwicklungspolitik zusammenhängen. China sei hier angehalten, nicht zu dominant aufzutreten, da auch sie auf Kooperation angewiesen seien. Die Missbilligung jeglicher Kritik an China und unvorteilhafte Konditionen der Kreditvorhaben, führten bereits zu einigen Pushbacks in betroffenenLändern. Wichtig bleibe allerdings ein differenzierter Blick, der auch die Chancen eines solche Projekts wahrnehme.
Professor Schubert machte deutlich, dass der sog. „Westen“ sich überlegen muss, wie er mit seinen Wertevorstellungen umgeht und diese gegenüber anderen vertritt. Langfristig bestehe keine Möglichkeit, China durch beispielsweise wirtschaftliches „Decoupling“ unter Druck zu setzen, nachdem sich bereits der Ansatz „Handel durch Wandel“ als Fehleinschätzung herausgestellt hat. Es liege an dem „Westen“, einen Modus Vivendi zu etablieren, indem im Zusammenspiel von Druck und Gesprächen mit China verhandelt werde. Auch Deutschland wäre gut beraten, sich zu überlegen, wie es mit China umgehen möchte und auch wie es selbst von China behandelt werden will. Momentan ist die deutsche Wirtschaft, insbesondere die Automobilwirtschaft, stark in China involviert. Noch bestehe eine technologische Lücke, es sei allerdings fraglich wie lange noch. Deutsche Firmen müssten sich daher auf einen Plan B einstellen, sofern China nicht von seinem wirtschaftsnationalistischen Kurs abweiche.
Die gestellten Fragen der Zuhörer:innen befassten sich noch mit den Ambitionen Chinas bis 2060 klimaneutral zu werden, was laut Professor Schubert durchaus ernst gemeint sei und in das chinesische Selbstverständnis passe, sich den Status als Innovationsland zu erarbeiten und klimafreundliche Schlüsseltechnologien zu besetzen. Thematisiert wurde außerdem die Symbolik der Kommunistischen Partei, die sich zuallererst an das chinesische Volk selbst richte. Stabilität und Legitimität seien in der KP von hoher Priorität.
Am Ende einer überaus vielseitigen und differenzierten Veranstaltung wagte Professor Schubert noch einen vorsichtigen Blick in die Glaskugel. Seiner Auffassung nach brauche es eine andere, weniger konfrontative Politik gegenüber China, die sich von der momentanen amerikanischen Politik unterscheide. Hier müsse geklärt werden, ob man einen konfrontativen Transatlantismus wiederbelebe oder doch mehr Differenziertheit anstrebe, die einem letztlich auch mehr Verhandlungsspielraum lasse. Noch sei nicht absehbar, ob die chinesische Politik unter Xi Jinping aggressiver werde oder doch kooperativ gehandelt werde, da auch letztlich China auf Kooperation angewiesen ist. Deutschland müsse daher versuchen, mit China eng im Gespräch zu bleiben. Diese Politik vermisst Prof. Schubert momentan allerdings noch. Er hofft darauf, dass China in den nächsten Jahren mehr in den Fokus deutscher Politik, aber auch der Zivilgesellschaft rückt. Wissen über China, die Politik und die Kultur seien hierzulande noch sehr rudimentär. Er wünscht sie daher mehr Interesse und Verständnis, auch außerhalb der akademischen Blase.
Wir bedanken uns bei der Deutschen Atlantischen Gesellschaft und den beiden Referenten, Professor Schubert und Herrn Gottschalk, sowie dem Hesse Kabinett Tübingen für diesen überaus interessanten Abend. Die Veranstaltung wurde aufgezeichnet und kann hier nachgesehen werden.
Am 22.06.2021 veranstaltete die Hochschulgruppe für Außen- und Sicherheitspolitik in Tübingen die erste Kooperationssitzung gemeinsam mit den Jungen Europäischen Förderalist*innen (JEF) in Tübingen zum Thema „Europäische Außen- und Sicherheitspolitik“. Die Mitglieder der beiden Hochschulgruppen organisierten Input-Vorträge zu Missionen und Strategien der EU und prüften ihr Wissen in einem abschließenden Pubquiz.
Nach einer kleinen Vorstellung der beiden Hochschulgruppen eröffneten Sophia, Beisitzerin der JEF Tübingen, und Marie, Vorsitzende des BSH Tübingen, die Veranstaltung mit einem Vortrag zur Einführung in die Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Hierbei erklärten sie die Entstehung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und die neue Strukturierung und Erweiterung des auswärtigen Handels der EU seit dem Vertrag von Lissabon. Sophia legte ihren Schwerpunkt auf den Europäischen Auswärtigen Dienst und die Rolle des Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik, während Marie anschließend nochmals auf die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die militärischen Fähigkeiten der EU einging. Vor allem in den letzten Jahren habe sich die EU verstärkt darum bemüht, die verteidigungspolitische Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten auszubauen.
Dieser Vortrag bildete den Übergang zu den aktuellen militärischen und zivilen Missionen und Strategien der EU. Zwei Mitglieder des BSH Tübingen hatten Input-Vorträge vorbereitet und die Teilnehmenden konnten sich für eine der beiden Gruppen entscheiden. Die erste Gruppe beschäftigte sich mit der EU-Mission in Mali. Lina erläuterte hierbei die Ausbildungsmission EUTM Mali, deren Ziel es ist, durch Ausbildung und Beratung malische Streitkräfte dazu zu befähigen, gegen islamistische Milizen in der Region vorzugehen. In der zweiten Gruppe beschäftigte sich Fabian mit einer möglichen EU-Mission im Norden Mosambiks, wo die Bedrohungen durch terroristische Gruppen zugenommen haben. Auch hier erwägt die EU nun einen Militäreinsatz nach Vorbild der EUTM Mali zur Unterstützung von Regierungstruppen in Mosambik. In beiden Gruppen diskutierte man anschließend über die Effektivität solcher Missionen, den Zusammenhang zum Kolonialerbe vieler europäischer Staaten und die Zukunft einer gemeinsamen, vereinten, europäischen Außen- und Sicherheitspolitik.
Abschließend traten die Teilnehmenden in kleineren Teams bei einem Pubquiz gegeneinander an. Die Veranstaltung gab den Mitgliedern beider Hochschulgruppen die Gelegenheit, sich besser kennenzulernen und auszutauschen. Wir, als BSH Tübingen, danken der JEF Tübingen für die unkomplizierte Zusammenarbeit und den schönen Abend, und freuen uns auf weitere Kooperationsveranstaltungen in der Zukunft!
Am Donnerstag, den 29.04.2021, führte die Hochschulgruppe Tübingen ihr zweites Online-Seminar des Sommersemesters durch. Zu Gast war Prof. Dr. Stefan Goertz, Professor für Sicherheitspolitik mit dem Schwerpunkt Extremismus und Terrorismus an der Hochschule des Bundes im Fachbereich Bundespolizei, der einführend erklärte, dass er seine persönliche wissenschaftliche Analyse vorträgt. Er diskutierte mit 39 Zuschauern das Thema „Rechtsextremismus in Deutschland: Aktuelle Akteure und aktuelle Trends“.
Nach Angaben des Bundeskriminalamtes (BKA) wurden in Deutschland im Jahr 2020 rund 21.000 rechtsextremistische Straftaten begangen, was Rechtsextremismus in Deutschland als ernstzunehmende Bedrohung ausweist. Die Anzahl der Delikte steigt tendenziell weiter an, und jeder dritte deute Rechtsextremist wird Experten zufolge als gewaltbereit eingestuft. Den Sicherheitsbehörden wird die Verfolgung oder Prävention solcher Straftaten durch die Verlagerung der Radikalisierung vom Milieu hin ins Internet, von der Prof. Dr. Goertz berichtete, deutlich erschwert. Durch diese neue Art der Rekrutierung gelingt es Extremisten jeder Gesinnung, immer mehr Menschen, die sich sonst der sogenannten „Mitte“ zuordneten, für ihre Ideen zu begeistern. So entstand in den letzten Jahren eine neue Art von rechtsextremer deutscher Internetkultur, die psychologisch für viele Menschen deutlich ansprechender ist als das klassische Milieu und das Bild der Skinheads. Das ist auch klar ersichtlich an den schwindenden Mitgliederzahlen in Organisationen des sogenannten „alten Rechtsextremismus“, wie beispielsweise der NPD.
Der Trend geht hin zum neuen Rechtsextremismus, welcher sich sowohl im Internet als auch realweltlich neu organisiert. Inzwischen gibt es in ganz Europa Veranstaltungen und Festivals jeglicher Art, auf denen sich Rechtsextreme austauschen und vernetzen können. Als Beispiele nannte Prof. Dr. Goertz den „Kampf der Nibelungen“, das größte Kampfsportevent für Rechtsextreme in Europa, und Musikveranstaltungen wie das „Schild und Schwert“-Festival. Diese Veranstaltungen bieten auch eine gefährliche Radikalisierungsmöglichkeit für Jugendliche und junge Erwachsene und können leider, da sie häufig als politische Veranstaltungen organisiert werden, schwer durch die Sicherheitsbehörden aufgelöst werden.
Die „Neue Rechte“ möchte intellektueller erscheinen, und richtet sich in der Rekrutierung meist an Schüler, Studenten und junge Erwachsene. Ein Beispiel dafür ist die „Identitäre Bewegung“ (IBD), welche Begriffe und Phrasen wie „Rasse“ und „Ausländer raus“ gegen neue, weniger belastete wie „Ethnie“, „Kultur“ und „Remigration“ getauscht hat, um sich klar von der alten Rechten abzuheben. Eine beliebte Theorie ist hier die des „großen Austausches“, nachdem das sogenannte „Weiße Europa“ angeblich langsam aber sicher durch Immigranten, welche mehr Kinder bekommen, ersetzt werden soll. In diesem Zusammenhang sprechen verschiedene Rechtsextremisten vom „white genocide“, also einem Völkermord an der „Weißen Rasse“ gesprochen. Prof. Dr. Goertz zitierte Politikwissenschaftler, die die Neue Rechte als eine rechtsextremistische Intellektuellengruppe bezeichnen, die sich das Gedankengut der Konservativen Revolution der Weimarer Republik stützt und mit einer Kulturrevolution von rechts einen grundlegenden politischen Wandel in Deutschland vorantreiben will.
Doch nicht nur Gruppen wie die IDB geben Grund zur Sorge, so werden beispielsweise auch Teile der AfD vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) als sogenannter „Prüffall“ eingestuft, was zur Auflösung des Flügels innerhalb der Partei führte. Auch Bewegungen wie die Querdenker können ein Nährboden für rechte Radikalisierung darstellen. Seit kurzem wird die Bewegung auf dem gesamten Bundesgebiet vom BfV beobachtet, da auch hier zumindest im „radikalen Kern“ rechtsextreme Tendenzen beobachtet wurden. Hier zeigt sich eine neue Form des Extremismus, der sich in Form von Verschwörungstheorien und der Delegitimierung der Demokratie ausdrückt. Vor allem der Glaube an Verschwörungstheorien kann zu Gewaltbereitschaft führen, was durch die traurige Statistik, dass Deutschland europaweit die meisten Angriffe auf Journalisten verzeichnen muss, zu belegen ist.
Weiter ging Prof. Dr. Goertz auf den „Lagebericht Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden“ des BfV aus dem Herbst 2020 ein. Dieser führt aus, dass auch die deutschen Sicherheitsbehörden und die Bundeswehr nicht frei von Rechtsextremismus sind, weshalb nun eine Politik der Detektion, Reaktion und Prävention angewandt wird, um rechtsextreme Polizisten, Soldaten, und sonstige Mitarbeiter zu identifizieren. Untersucht wurden und werden von diesem Lagebericht des BfV unter anderem das BKA, die Bundespolizei, der Zoll, der Bundesnachrichtendienst (BND) sowie das BfV selbst. Unter Berufung auf jüngste Untersuchungsergebnisse attestierte Bundesinnenminister Horst Seehofer, es gebe „kein strukturelles Problem“ von Rechtsextremismus in den deutschen Sicherheitsbehörden, sondern Einzelfälle von Rechtsextremisten.
Die Diskussion um ein strukturelles Problem tritt auch auf, wenn über Rechtsterrorismus gesprochen wird. Der Übergang von Rechtsextremisten zu Rechtsterroristen verläuft heute oft fließender und schneller, was ebenfalls durch die Organisation im Internet zu begründen ist. Die Frage, ob es sich bei Terroristen wie den Mitgliedern des NSU oder Tobias R., dem Attentäter von Hanau, um Einzeltäter handelt, ist oft diskutiert. Sie handeln zwar allein, ohne Bezug zu einer größeren Gruppe oder einer Führungsperson, kommunizieren aber dennoch mit Gleichgesinnten online. Hier sprach Prof. Dr. Goertz vom sogenannten „Führerlosen Widerstand“ („leaderless resistance“) von Zellen und Einzeltätern, welcher schwieriger aufzudecken und strafrechtlich zu verfolgen ist als große hierarchisch strukturierte Terrororganisationen.
In der im Anschluss an Prof. Dr. Goertz‘ Vortrag durchgeführten Fragerunde stellten die Teilnehmer zahlreiche anregende Fragen. So wurde unter anderem nach Deradikalisierungsprogrammen für aus den Sicherheitsbehörden Entlassene, technischen Möglichkeiten der Strafverfolgung, strukturellen Problemen im Umgang mit Rechtsextremismus in Deutschland, sowie die Rolle der AfD im Radikalisierungsprozess der „Mitte“ gefragt.
Abschließend möchte sich die Hochschulgruppe Tübingen herzlich bei Prof. Dr. Goertz für den spannenden und informativen Abend bedanken und hofft auf eine erneute Zusammenarbeit in der Zukunft – mit Blick auf die Überschreitung der geplanten Vortragszeit ist das Interesse an dieser Thematik klar vorhanden.
Am Mittwoch dem 21.04.2021 startete die Hochschulgruppe Tübingen mit einem Online-Seminar zum Thema „Sieben Jahre Krieg in der Ostukraine“ in das Sommersemester. Zu Gast war Jakob Hauter, Doktorand an der School of Slavonic and East European Studies am University College London, der seine angehende Forschung zur Eskalation des Konflikts präsentierte und sich anschließend den Fragen der Teilnehmenden stellte.
Hauter teilte seinen Vortrag in drei Abschnitte ein: er begann mit einem kurzen Rückblick auf den Ablauf des Konflikts und die wichtigsten Eckdaten seit 2014 und ging danach zu seiner Forschung zur Eskalation des Krieges über. Hierbei betonte er die Besonderheit des Konflikts und bezeichnete ihn als zwischenstaatlichen Krieg mit lokaler Dimension, da man weder von einem reinen Bürgerkrieg noch von einem normalen zwischenstaatlichen Krieg ausgehen könne. Dieses Argument unterstützte Hauter durch verweis auf die von ihm erstellte Eskalationsspirale. Diese stellt dar, in welchen Phasen des kritischen Zeitraums zwischen April und September 2014 der Konflikt eher einem Bürgerkrieg oder eher einem zwischenstaatlichen Konflikt ähnelte. Hauter kommt zu dem Schluss, dass sich zwar lokale Gewaltbereitschaft in der Ostukraine nachweisen lässt, der Krieg jedoch ohne die Unterstützung Russlands nicht in diesem Maße eskaliert wäre. Deswegen sei es essenziell, dass man Russlands Rolle am Konflikt nicht herunterspiele.
Im letzten Teil seines Vortrags ging Hauter auf die Rolle der Bundesrepublik Deutschland und die Möglichkeiten, den Konflikt zu beenden, ein. Deutschland habe sich zu Beginn deeskalierend verhalten, aber den Fokus zu sehr auf die interne anstatt auf die internationale Dimension des Konflikts gelegt. Er empfiehlt, dass Deutschland eine klare Haltung zu Russland als Kriegspartei bezieht und einen Stufenplan inklusive internationaler Friedensmission für die Wiederherstellung des Friedens aufstellt. Außerdem müsse überlegt werden, wie man größeren Druck auf Moskau ausüben und im Falle einer weiteren Eskalation reagieren könne.
Nach diesem spannenden Vortrag gab es für die Teilnehmenden noch die Möglichkeit, dem Referenten Fragen zu stellen. Hierbei ging es neben dem jüngsten Truppenaufmarsch in der Grenzregion auch um die Bedeutung von russischen Öl- und Gasexporten nach Deutschland und die Auswirkungen, die dieses wirtschaftliche Verhältnis auf die Bewältigung des Konflikts haben kann.
Abschließend möchten wir uns bei Jakob Hauter für den spannenden und lehrreichen Vortrag bedanken!
Am Donnerstag den 04.03.2021 hatte die Hochschulgruppe Tübingen Dr. Agne Cepinskyte von der Stiftung Wissenschaft und Politik zu Gast, die mit uns unter dem Titel “Changing Environments in new political Realities in the Arctic” über die sicherheitspolitische Lage in der Arktis sprach.
Zu Beginn gab Dr. Cepinskyte einen kurzen Überblick über die in der Arktis relevanten Akteure und die institutionelle Rahmenordnung um den Arktischen Rat. Dieser setzt sich aus acht Mitgliedsstaaten, sechs Vertretungen indigener Völker, sechs Arbeitsgruppen sowie Beobachterstaaten und -organisationen zusammen. Der Vortrag teilte sich danach in drei Teile, der anhand von exemplarischen Akteuren die Rolle der arktischen Staaten, nicht-arktischen Staaten und indigenen Völkern beleuchtete.
Die Arktis war über lange Zeit eine Region des Friedens und der Kooperation, die regelrecht immun gegenüber Konflikten wirkte. Seit den späten 2000ern sei hier allerdings ein Wandel zu beobachten. Neue Handelsrouten und bisher von Eis bedeckte Rohstoffvorkommen machen die Arktis zu einem Raum, der zunehmend das Interesse auf sich ziehe und in dem die Machtverhältnisse noch nicht geklärt seien. Den Fokus legte die Referentin hierbei zunächst auf Russland. Das größte Territorium innerhalb des Polarkreises gehört zu Russland und ein Großteil der Nord-Ost-Passage verläuft entlang der russischen Küste. Dr. Cepinskyte stellte dar, dass sich aus dem wachsenden Interesse Russlands, das sich 2008 erstmals als führende arktische Macht bezeichnete, über die Jahre ein Sicherheitsdilemma entwickelte. Russland baue kontinuierlich seine militärischen und zivilen Kapazitäten im arktischen Norden aus, was sich durch die Reaktivierung von Militärbasen aus der Sowjetzeit, vermehrten Übungen und auch der Anzahl an einsatzfähigen Eisbrechern ausdrücke. Russland besitzt gegenüber den anderen arktischen Staaten die größte Flotte an Eisbrechern, die gerade für eine sichere Schifffahrt im hohen Norden essentiell sind. Der sog. “Icebreaker Gap” stelle andere Akteure, insbesondere die USA, vor die Herausforderung, den Status Quo anzuerkennen, oder ihre militärischen Kapazitäten im arktischen Raum zu erhöhen. Hierbei zeige sich allerdings bereits ein großer Rückstand gegenüber Russland. So sei auch die jüngste und erstmalige Verlegung einer US-Bomberstaffel des Typs B-1 nach Norwegen zwar nicht Ausfluss einer größeren Strategie, aber ein weiterer Beleg für die zunehmende Militarisierung der Region.
Als Beispiel eines nicht-arktischen Staates, sprach Dr. Cepinsykte über das Engagement des Vereinigten Königreichs. Nachdem sich Großbritannien nach Ende des Kalten Krieges weitestgehend aus dem arktischen Raum zurückzog und sich dort primär auf Forschungsfragen konzentrierte, ist auch hier seit einigen Jahren ein zunehmendes Engagement feststellbar. 2018 wurde in diesem Zusammenhang die britische Arktisstrategie veröffentlicht, die einen Wechsel hin zu verteidigungspolitischen Fragestellungen bedeutete. In dieser Strategie spielt insbesondere die Marine eine entscheidende Rolle, deren Hauptaufgabe, die Sicherung von Handelsrouten, nun auch auf die Arktis ausgeweitet wurde. Die tatsächlichen Fähigkeiten der britischen Marine blieben bisweilen allerdings weit hinter den angestrebten Zielen zurück. Im Zuge des Brexit sei es zudem fragwürdig, inwieweit eine solche Strategie finanzierbar ist.
Als dritte und letzte Gruppe sprach die Referentin über die indigenen Bevölkerungen in der Region und über die Frage, wie sich die zunehmenden Aktivitäten im hohen Norden auf deren Lebensweise auswirke. Als besonders belastend für die Sicherheit der indigenen Gruppen wurden hier große Infrastrukturprojekte zur wirtschaftlichen Erschließung des hohen Nordens aufgeführt. Hier thematisierte sie zunächst das finnisch-norwegische Großprojekt der “Arctic Railway”, was das antizipierte Handelsaufkommen über die Nord-Ost-Route per Zugstrecke in den Rest Europas verteilen soll. Ein Großteil der Strecke verlaufe durch autonome Regionen indigener Völker und störe dabei besonders Lebens- und Jagdräume. Die Staaten befinden sich im Zwiespalt, die Autonomie der indigenen Völker zu gewährleisten, und gleichzeitig die wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Hier bleibe besonders zu beobachten, dass ein solcher Ausgleich nicht zu Lasten der dortigen Bevölkerung stattfinde.
Dr. Cepinsykte ging auch auf die Situation der Jamal-Nenzen in Russland ein, die exemplarisch für eine Vielzahl von indigenen Völkern auf russischem Territorium stehen. Auch wenn ihnen per Gesetz eine gewisse Teilautonomie, sowie der Zugang zu ihrem Land und natürlichen Ressourcen zugesichert werde, komme es durch die Erschließung der Gasvorkommen vermehrt zu Einschränkungen und Zurückdrängung. Insbesondere sei die kulturstiftende Rentierwirtschaft bedroht. Durch den Klimawandel und infrastrukturelle Umstrukturierung in der Region komme es vermehrt zu Unterbrechungen der Migrationsrouten der großen Rentierherden, an denen sich das Leben der dortigen indigenen Bevölkerung ausrichte. Für die russische Regierung ist die Region von großer Bedeutung, da dort nach Schätzungen etwa 80% der natürlichen Gasvorkommen Russlands lagerten. Es bleibe demnach abzuwarten, inwieweit die Bedürfnisse der indigenen Gruppen berücksichtigt würden. Dr. Cepinskyte zeigte sich allerdings pessimistisch und geht von einer zunehmenden Verschlechterung der traditionellen Lebensumstände aus.
Im Anschluss des Vortrags ergab sich eine vielseitige Fragerunde, die einige Problemstellungen aus dem Vortrag vertiefte, aber auch neue Themenfelder eröffnete. So wurden Fragen über die Rollen und Interessen Chinas, sowie Deutschlands und der EU thematisiert.
Der Vortrag zeichnete ein differenziertes Bild der Region und der involvierten Akteure. Insbesondere die Betrachtung indigener Völker stieß auf großes Interesse, da diese in der Betrachtung der Arktis sonst wenig Beachtung erfahren Die Hochschulgruppe Tübingen bedankt sich bei Dr. Agne Cepinskyte und den Teilnehmer:innen für einen spannenden und lehrreichen Abend.
Am Dienstag, dem 16. Februar 2021, veranstalteten die Hochschulgruppen für Außen- und Sicherheitspolitik Bremen und Tübingen gemeinsam eine Online-Veranstaltung zum Thema Verschwörungstheorien, deren Zusammenhängen mit Populismus und den Möglichkeiten zum Umgang mit Verschwörungstheoretiker*innen. Zu Gast waren dafür Dr. Sarah Pohl, Leiterin der Beratungsstelle ZEBRA/BW (Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen Baden-Württemberg), ihre Kollegin Isabella Dichtel sowie Constanze Jeitler, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Rahmen des von der EU geförderten Projektes „PACT: Populism and Conspiracy Theories“ und Doktorandin am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Tübingen.
Frau Jeitler eröffnete die Veranstaltung mit einer Übersicht über die Entstehung und Natur von Verschwörungstheorien, sowie deren Beziehung zum politischen Populismus. Eine Verschwörungstheorie ist ein spekulatives Narrativ, welches Vermutungen über Zusammenhänge und Ereignisse aufstellt, die den offiziellen Erklärungen widerspricht. Dabei können Interessent*innen leicht in eine Szene abrutschen, die sich durch gegenseitige Bestätigung auszeichnet und immer fragwürdigere Theorien zu Ereignissen aufstellt. Drei Merkmale von Verschwörungstheorien sind: Nichts geschieht durch Zufall, nichts ist wie es scheint, und alles ist miteinander verbunden. Dabei gibt es auch immer klar gute und böse Seiten, wobei die böse meist durch Eliten vertreten wird. Hier lässt sich der erste Zusammenhang mit Populismus herstellen, denn auch dort werden die Eliten meist zum Feind gemacht. Auch ist oft eine Überschneidung zwischen einem populistischen Wahlverhalten und dem Glauben an Verschwörungstheorien zu erkennen, jedoch können auch beide Phänomene unabhängig voneinander existieren. Die Gefahr, wenn sich beide verbinden, besteht jedoch vor allem darin, dass Populist*innen Verschwörungstheorien auf die politische Bühne bringen, worauf unter anderem Drohungen und Aufruhr folgen können.
Im Anschluss an Frau Jeitlers Input übernahmen Frau Dr. Pohl und Frau Dichtel, die sich vor allem auf den Umgang mit Verschwörungstheorien und deren Anhänger*innen konzentrierten. Der Glaube an solche Theorien scheint unabhängig von Geschlecht, Alter und sozioökonomischen Faktoren zu sein, wobei die Auswirkung des Bildungsgrades noch diskutiert und erforscht wird. Menschen, die sich von der Gesellschaft ausgegrenzt fühlen, verfallen diesen Theorien leichter, ebenso wie, wie von Frau Jeitler ebenfalls dargelegt wurde, Vertreter*innen extremer politischer Ansichten. Sie sind gesellschaftlich engagierte Menschen, die sich vom jetzigen System nicht verstanden und enttäuscht fühlen. Verschwörungstheorien können die Angst dieser Menschen in einer unsicheren Welt lindern, ihr Selbstwertgefühl steigern und ihrem Dasein Sinn verleihen. Wie sollte man also damit umgehen, wenn in der eigenen Familie oder im privaten Umfeld solche Theorien verbreitet werden? Man sollte versuchen, weiterhin auf Augenhöhe mit den Betroffenen zu reden. Dabei sollte die Devise „Verstehen statt Verurteilen“ gelten. Zudem sollten viele Fragen gestellt werden: Warum interessiert sich dieser Mensch für Verschwörungstheorien, was könnte die zugrundeliegende Problematik sein?
Nach diesen beiden faszinierenden Input-Vorträgen wurden von den Teilnehmenden der Veranstaltung viele spannende Fragen gestellt. Besonders angeregt wurde dabei die Frage diskutiert, ob wir als Gesellschaft weiterhin mit Verschwörungstheoretiker*innen reden und ihnen eine Bühne bieten sollten, wie es zum Beispiel gerade rund um die Querdenker-Bewegung debattiert wird.
Abschließend möchten wir uns bei Frau Jeitler, Frau Dr. Pohl und Frau Dichtel für dieses spannende und interessante Seminar bedanken.
Am 24. Januar 2020 war Dr. Sarah Kirchberger, Leiterin der Abteilung Strategische Entwicklung in Asien-Pazifik des Instituts für Sicherheitspolitik (ISPK) der Universität Kiel, zu Gast bei der Hochschulgruppe für Außen- und Sicherheitspolitik in Tübingen. Sie sprach zu den Modernisierungsbestrebungen der chinesischen Streitkräfte und dem sich verschiebenden strategischen Gleichgewicht in Ost- und Südostasien.
Zu Beginn ihres Vortrags sprach Dr. Kirchberger von den aktuellen militärstrategischen Herausforderungen für die Volksrepublik. Diese sind vor allem durch die USA personifiziert, welche eine voll entwickelte Nukleartriade und „Global Strike“ Kapazitäten besitzen und mit diesen Fähigkeiten das chinesische Festland bedrohen können. Aus chinesischer Sicht ist man von US-Stützpunkten in mehreren asiatischen Ländern umgeben. Auf strategischer Ebene kommt hier hinzu, dass Chinas seegestützte ballistische Flugkörper die amerikanische Westküste nur erreichen können, sofern sie von Plattformen im Pazifik abgeschossen werden. Dr. Kirchberger wies drauf hin, dass Chinas Belt-and-Road Initiative vor diesem Hintergrund als eine Anti-Containment Strategie verstanden werden müsse. So ist auch die neue Basis in Dschibuti kein reiner ziviler Logistik-Hub, sondern bietet mehreren tausend Soldaten Platz und verfügt über Start- und Landebahnen für schweres militärisches Gerät.
Ein Schwerpunkt in der chinesischen militärischen Modernisierung stellt die Marine dar, welche bis zum Jahr 2005 als eine reine Küstenmarine fungierte und seitdem stark angewachsen ist. Erneuten Impetus erhält diese Teilstreitkraft seit der Militärreform 2015 durch den Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chinas, Xi Jinping. So hat China seit 2014 seine Seestreitkräfte bereits um die Gesamtmenge an Schiffsstahl der japanischen Marine vergrößert. Laut Dr. Kirchberger, werden Schiffe in chinesischen Werften im 3-Schicht-Betrieb an sieben Tage in der Woche gebaut. Dies gleiche einem Betriebszustand, den man sonst nur aus Kriegszeiten kenne. Schon heute gehören ca. 40% aller U-Booten im Asien-Pazifik Raum zur Volksbefreiungsarmee.
Seit 2015 gibt es eine enge militärische Zusammenarbeit zwischen China und Russland, die sich in gemeinsamen Militärübungen zu Land und zur See, sowie der gemeinsamen Entwicklung von Waffentechnologien zeigt. So unterstützt Russland China etwa bei der Entwicklung eines Frühwarnsystems zur Abwehr ballistischer Flugkörper. Eine engere Kooperation zwischen China und Russland könnte auch eine Stationierung chinesischer nuklear bewaffneter U-Boote in der Arktis ermöglichen und damit das Problem der Reichweite seegestützter chinesischer Nuklearwaffen lösen. Dies sind Optionen, die in chinesischen Fachzeitschriften ernsthaft untersucht werden.
Die Rolle Taiwans in der chinesischen Sicherheitswahrnehmung hob Dr. Kirchberger besonders hervor. Sie führte aus, dass Taiwan ein strategisch wichtiger Punkt für China sei, da es von dessen Ostküste direkten Zugang zum Pazifik hätte und China damit aus der „ersten Inselkette“ ausbrechen könnte. Sie gab zu bedenken, dass man China klar machen müsse, dass Taiwan keine „zweite Krim“ werden dürfe. Bei einer Invasion wären Verluste vermutlich hoch und Widerstand auf taiwanesischer Seite intensiv. Die erschreckende Aussage von Konteradmiral Luo Yuan, dass man „zwei amerikanische Flugzeugträger zerstören müsse, damit die USA sich aus dem Pazifik-Gebiet zurückziehen“ weise auf die zum Teil radikalen Positionen innerhalb des chinesischen verteidigungspolitischen Establishments hin. Dr. Kirchberger erläuterte, dass man in Teilen der amerikanischen Streitkräfte annehme, dass Taiwan in der Dekade von 2030-2040 „zurückerobert“ werden solle. Damit bliebe bis 2049, einem bedeutsamen Jahr im chinesischen politischen Kalender, Zeit, um innere Konflikte zu befrieden und Beziehungen zur westlichen Welt zu normalisieren.
Für die Zuhörenden wurde deutlich, dass die chinesische Sicherheitspolitik kein Nischenthema mehr sei und in Zukunft vermutlich noch mehr Beachtung finden wird.
Ein Vortrag von Dr. Sheu Jyh-Shyang am 28.11.2019 an der Universität Tübingen zu den aktuellen sicherheitspolitischen Herausforderungen und strategischen Ausrichtung der taiwanesischen Streitkräften gegenüber der Volksrepublik China. Der Vortrag wurde organsiert durch die Hochschulgruppe Außen-und Sicherheitspolitik in Tübingen.
„Taiwan braucht Abschreckung“ so Dr. Sheu. Ob die Stationierung von Mittelstreckenraketen durch die USA die Beziehung zur Volksrepublik China (VRCh) noch verschlechtern könne sei jedoch, aufgrund der der nicht vorhandenen diplomatischen Beziehung der beiden Länder, kaum eindeutig zu bewerten. Was im europäischen Kontext nach Ende des Kalten Krieges zunehmend in den Hintergrund gerückt ist, bleibt in an der Taiwanstraße jedoch maßgeblicher Angelpunkt sicherheitspolitischer Überlegungen. Die Abschreckungslogik als Garant einer unabhängigen Republik China (Taiwan) vom Festland besteht dabei seit Beginn des Konfliktes vor 70 Jahren fort.
Dennoch kann seit der Modernisierung der chinesischen Volksbefreiungsarmee (VBA) in den 1980er eine zunehmende Verschiebung des Mächtegleichgewichtes und der technologiebedingten Fähigkeiten beobachtet werden, welche letztlich auch die Bedrohungslage durch das Festland für Taiwan verstärkt. So weist Dr. Sheu daraufhin, dass gerade vor diesem Hintergrund die VBA eine Strategie verfolgt, welche als ein „all domain threat“ für die Republik China gelten muss. Dabei werden nicht nur Kapazitäten für einen unmittelbaren bewaffneten Konfliktfall in der VBA aufgebaut, sondern auch sogenannte „grey zone forces“, welche auch in Friedenszeiten zum Einsatz kommen. Dabei bedienen sich solche Kräfte unterschiedlichster Instrumente, um Taiwans Sicherheitslage zu verschlechtern. So sind etwa militärische wie zivile Infrastruktur in Taiwan einer Vielzahl von Cyberangriffe ausgesetzt, darunter auch die Universitäten. Aber auch das systematische Eindringen von
maritimen Milizen und chinesischer Luftstreitkräfte in taiwanisches Hoheitsgebiet kann als eine wichtige Form chinesischer Provokation gelten. Dennoch erstrecken sich diese Maßnahmen letztlich nicht nur auf unmittelbare Effekte, sondern zielen auch auf eine nachhaltige Destabilisierung der taiwanesischen Gesellschaft ab, wenn etwa religiösen Gruppen oder kriminellen Organisationen innerhalb Taiwans durch die Volksrepublik unterwandert und instrumentalisiert werden.
Doch wie kann das Militär letztlich auf diese zunehmende Bedrohungslage reagieren?
Insbesondere innerhalb der Streitkräfte sei die zunehmende Überlegenheit der Volksbefreiungsarmee zentraler Ansatzpunkt für die Strategieentwicklung. So wird vor allem das Konzept einer asymmetrischen Kriegsführung hervorgehoben, die besonders darauf basiert, „small, many, mobile and lethal weapon systems“ zu beschaffen. Ziel dieser Strategie sei es einen effizienteren Weg zu eröffnen, chinesische Streitkräfte hinzuhalten bis amerikanische und/oder internationale Unterstützung eintrifft. Gerade vor dem Hintergrund einer ambivalenten Taiwanstrategie der USA, welche einen eindeutigen Schluss über die amerikanische Unterstützung im Konfliktfall kaum zulässt, sei es daher notwendig Szenarien- und Strategieentwicklung über diesen Fall hinaus miteinzubeziehen.
Jedoch eignen sich, so Dr. Sheu, solche asymmetrischen Kapazitäten letztlich nur für die Bedrohung durch eine chinesische Invasion – einen Schutz gegen die „grey zone forces“ bieten sie dabei kaum. Es bedarf daher weiterhin auch großer Waffensysteme, wie etwa moderner Kampfflugzeuge, um systematischen Grenzverletzungen in Friedenszeiten begegnen zu können.
Ziel muss es daher sein in traditionelle wie auch asymmetrischen Fähigkeiten und Kapazitäten zu investieren und diese gegeneinander auszubalancieren, um auf die chinesische Herausforderung reagieren zu können. Dennoch fehle es dafür bisher an gesellschaftlichem Rückhalt. So bedürfte es eines höheren Militäretats zur vollständigen Modernisierung der Streitkräfte. Solche zunehmenden Ausgaben stehen dabei in direkter Konkurrenz zu anderen Projekten und Politikfeldern, welche von der Bevölkerung zumeist als wichtiger erachtet werden. Auch, und da unterscheide sich Taiwan kaum von Deutschland, seien die zunehmenden Personallücken innerhalb der Streitkräfte nur schwer zu schließen. Ob Attraktivitätsstrategien, wie sie auch die Bundeswehr verfolgt, diese Probleme letztlich auflösen kann, wird sich jedoch noch zeigen müssen.
Mit der Verknüpfung von Waffensystem und künstlicher Intelligenz vollziehe sich gerade ein „Paradigmenwechsel in der Militärtechnik“, welcher die Art der Kriegsführung grundlegend verändern wird. Zwar seien bereits voll autonome Waffensystem (LAWS) seit 30 Jahren im Einsatz und finden auch heute in der Bundeswehr, etwa durch das Flugabwehrsystem Mantis, Verwendung. Dennoch erweitere der aktuelle Fortschritt im Bereich der künstlichen Intelligenz die Anwendungsfelder solcher vollautonomen Systeme. So gab die US Air Force bereits ein vollautonomes Kampfflugzeug die X-47B in Auftrag, welches schon heute flugfähig ist und in Zukunft vollautonom Ziele identifizieren, aufklären und bekämpfen soll. Diese technische Entwicklung mache letztlich deutlich wie schnell und umfassend KI-Anwendungen im militärischen Bereich Eingang findet. Ursächliche hierfür seien sicherlich die Vorteile, die solche Systeme bieten. So beschleunigen LAWS den Entscheidungsprozess innerhalb einer Kampfhandlung und würden damit einen strategischen Vorteil erzeugen. Dennoch läge genau in diesem Prozess auch die größte Problemstellung autonomer Waffensysteme, wenn menschliche Abwägung vollständig ausgeschlossen oder auf ein Minimum reduziert würde. Daher sei eine Kontextualisierung des Einsatzes von LAWS von zentraler Bedeutung. Dies macht Dr. Sauer an seiner eigenen Position besonders deutlich, wenn er den Einsatz von LAWS grundsätzlich ablehnt, sobald menschliches Leben gefährdet werde oder gezielt Menschen, unabhängig ihres völkerrechtlichen Status als Kombattant, getötet würden. Dennoch lehnt er autonomen Waffensystem nicht
grundsätzlich ab und verweist darauf, dass diese Systeme von ihm aus „schießen können bis sie blau werden“, solange es sich lediglich gegen Material richte. Denn eine Bekämpfung von Menschen durch LAWS ist aus seiner Sicht auf der völkerrechtlichen, ethischen und politischen Ebene problematisch.
Im juristischen Sinne sei sicherlich die Frage zu stellen wer Verantwortung für die Handlung solcher Waffensysteme übernehmen müsse. Gerade in der militärischen Struktur bliebe dies vollkommen unklar und erzeuge damit eine Rechtsunsicherheit, bei der vor allem die nicht festgelegte Rechenschaftspflicht schwerwiegend sei.
Aber auch die ethischen Implikationen, etwa die Tötung eines Menschen durch LAWS, seien dabei kaum von der Hand zu weisen. So gelte es hier die Würde des Menschen auch im Krieg zu wahren. Für Herrn Dr. Sauer besteht diese auch darin, dass sich bei der Bekämpfung eines Kombattanten „ein Mensch die Tötung mit seinem Gewissen abgleicht“ und sich auch mit dieser Handlung belaste.
Aber auch unabhängig von rechtlichen und ethischen Problemstellungen ergebe sich eine dringliche sicherheitspolitische Relevanz, die auf eine Regulierung solcher Systeme verweise. Denn LAWS und die dafür notwendigen Technologien seien vor allem eins: „dumm, billig, überall und blitzschnell“. Mit dieser schlaglichtartigen Umschreibung bringt Herr Dr. Sauer die wesentlichen sicherheitspolitischen Herausforderungen auf den Punkt. So sei die Verbreitung solcher Systeme schon jetzt weit fortgeschritten und der Innovationstreiber im Bereich der künstlichen Intelligenz als maßgebliche Grundlage der LAWS sei nicht das Militär, sondern der zivile Sektor. Zudem gehe die Gefahr nicht nur von komplexen Systemen wie etwa der X47-B aus, sondern insbesondere auch von billigen und dummen LAWS wie etwa ein 3-dimensionales Minenfeld
durch Mikro-Drohnen mit Wärmeerkennung. Nicht zuletzt könnten autonome Waffenplattformen auch als konkretes politisches Mittel verwendet werde, so Dr. Sauer. Dabei sei es durchaus denkbar, dass diese als Instrument zur Souveränitätsverletzung Verwendung fänden, da eine vollautonome Intervention in ein Hoheitsgebiet nur schwer zugeordnet werden könne und damit völkerrechtliche Ahndung kaum möglich erscheine.
Auf dieser Grundlage sei es von besonderer Bedeutung, dass auf internationaler Ebene ein neues Regulierungssystem entstehe, da traditionelle Ansätze der Rüstungskontrolle in diesem Zusammenhang kaum zielführend seien, wenn man „eine Funktion regulieren muss und nicht mehr einzelne Waffensysteme“. Es gilt, mit anderen Worten, die grundsätzlichen Charakteristika des autonomen Bekämpfens von Zielen innerhalb unterschiedlichster Waffensystemen zu regulieren und nicht mehr einen bestimmten Typ von Waffen einzuschränken.
Aus diesem Grund verweist Herr Dr. Sauer auf die Wichtigkeit der „Group of Governmental Experts on Lethal Autonomous Weapons Systems“, die sich auch dieses Jahr wieder in Genf getroffen hat, um ein solches Regulierungssystem zu erarbeiten.