Rechtsextremismus in Deutschland: Aktuelle Akteure und Trends

Am Donnerstag, den 29.04.2021, führte die Hochschulgruppe Tübingen ihr zweites Online-Seminar des Sommersemesters durch. Zu Gast war Prof. Dr. Stefan Goertz, Professor für Sicherheitspolitik mit dem Schwerpunkt Extremismus und Terrorismus an der Hochschule des Bundes im Fachbereich Bundespolizei, der einführend erklärte, dass er seine persönliche wissenschaftliche Analyse vorträgt. Er diskutierte mit 39 Zuschauern das Thema „Rechtsextremismus in Deutschland: Aktuelle Akteure und aktuelle Trends“.

Nach Angaben des Bundeskriminalamtes (BKA) wurden in Deutschland im Jahr 2020 rund 21.000 rechtsextremistische Straftaten begangen, was Rechtsextremismus in Deutschland als ernstzunehmende Bedrohung ausweist. Die Anzahl der Delikte steigt tendenziell weiter an, und jeder dritte deute Rechtsextremist wird Experten zufolge als gewaltbereit eingestuft. Den Sicherheitsbehörden wird die Verfolgung oder Prävention solcher Straftaten durch die Verlagerung der Radikalisierung vom Milieu hin ins Internet, von der Prof. Dr. Goertz berichtete, deutlich erschwert. Durch diese neue Art der Rekrutierung gelingt es Extremisten jeder Gesinnung, immer mehr Menschen, die sich sonst der sogenannten „Mitte“ zuordneten, für ihre Ideen zu begeistern. So entstand in den letzten Jahren eine neue Art von rechtsextremer deutscher Internetkultur, die psychologisch für viele Menschen deutlich ansprechender ist als das klassische Milieu und das Bild der Skinheads. Das ist auch klar ersichtlich an den schwindenden Mitgliederzahlen in Organisationen des sogenannten „alten Rechtsextremismus“, wie beispielsweise der NPD. 

 

Der Trend geht hin zum neuen Rechtsextremismus, welcher sich sowohl im Internet als auch realweltlich neu organisiert. Inzwischen gibt es in ganz Europa Veranstaltungen und Festivals jeglicher Art, auf denen sich Rechtsextreme austauschen und vernetzen können. Als Beispiele nannte Prof. Dr. Goertz den „Kampf der Nibelungen“, das größte Kampfsportevent für Rechtsextreme in Europa, und Musikveranstaltungen wie das „Schild und Schwert“-Festival. Diese Veranstaltungen bieten auch eine gefährliche Radikalisierungsmöglichkeit für Jugendliche und junge Erwachsene und können leider, da sie häufig als politische Veranstaltungen organisiert werden, schwer durch die Sicherheitsbehörden aufgelöst werden.

 

Die „Neue Rechte“ möchte intellektueller erscheinen, und richtet sich in der Rekrutierung meist an Schüler, Studenten und junge Erwachsene. Ein Beispiel dafür ist die „Identitäre Bewegung“ (IBD), welche Begriffe und Phrasen wie „Rasse“ und „Ausländer raus“ gegen neue, weniger belastete wie „Ethnie“, „Kultur“ und „Remigration“ getauscht hat, um sich klar von der alten Rechten abzuheben. Eine beliebte Theorie ist hier die des „großen Austausches“, nachdem das sogenannte „Weiße Europa“ angeblich langsam aber sicher durch Immigranten, welche mehr Kinder bekommen, ersetzt werden soll. In diesem Zusammenhang sprechen verschiedene Rechtsextremisten vom „white genocide“, also einem Völkermord an der „Weißen Rasse“ gesprochen. Prof. Dr. Goertz zitierte Politikwissenschaftler, die die Neue Rechte als eine rechtsextremistische Intellektuellengruppe bezeichnen, die sich das Gedankengut der Konservativen Revolution der Weimarer Republik stützt und mit einer Kulturrevolution von rechts einen grundlegenden politischen Wandel in Deutschland vorantreiben will.

 

Doch nicht nur Gruppen wie die IDB geben Grund zur Sorge, so werden beispielsweise auch Teile der AfD vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) als sogenannter „Prüffall“ eingestuft, was zur Auflösung des Flügels innerhalb der Partei führte. Auch Bewegungen wie die Querdenker können ein Nährboden für rechte Radikalisierung darstellen. Seit kurzem wird die Bewegung auf dem gesamten Bundesgebiet vom BfV beobachtet, da auch hier zumindest im „radikalen Kern“ rechtsextreme Tendenzen beobachtet wurden. Hier zeigt sich eine neue Form des Extremismus, der sich in Form von Verschwörungstheorien und der Delegitimierung der Demokratie ausdrückt. Vor allem der Glaube an Verschwörungstheorien kann zu Gewaltbereitschaft führen, was durch die traurige Statistik, dass Deutschland europaweit die meisten Angriffe auf Journalisten verzeichnen muss, zu belegen ist.

 

Weiter ging Prof. Dr. Goertz auf den „Lagebericht Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden“ des BfV aus dem Herbst 2020 ein. Dieser führt aus, dass auch die deutschen Sicherheitsbehörden und die Bundeswehr nicht frei von Rechtsextremismus sind, weshalb nun eine Politik der Detektion, Reaktion und Prävention angewandt wird, um rechtsextreme Polizisten, Soldaten, und sonstige Mitarbeiter zu identifizieren. Untersucht wurden und werden von diesem Lagebericht des BfV unter anderem das BKA, die Bundespolizei, der Zoll, der Bundesnachrichtendienst (BND) sowie das BfV selbst. Unter Berufung auf jüngste Untersuchungsergebnisse attestierte Bundesinnenminister Horst Seehofer, es gebe „kein strukturelles Problem“ von Rechtsextremismus in den deutschen Sicherheitsbehörden, sondern Einzelfälle von Rechtsextremisten.

 

Die Diskussion um ein strukturelles Problem tritt auch auf, wenn über Rechtsterrorismus gesprochen wird. Der Übergang von Rechtsextremisten zu Rechtsterroristen verläuft heute oft fließender und schneller, was ebenfalls durch die Organisation im Internet zu begründen ist. Die Frage, ob es sich bei Terroristen wie den Mitgliedern des NSU oder Tobias R., dem Attentäter von Hanau, um Einzeltäter handelt, ist oft diskutiert. Sie handeln zwar allein, ohne Bezug zu einer größeren Gruppe oder einer Führungsperson, kommunizieren aber dennoch mit Gleichgesinnten online. Hier sprach Prof. Dr. Goertz vom sogenannten „Führerlosen Widerstand“ („leaderless resistance“) von Zellen und Einzeltätern, welcher schwieriger aufzudecken und strafrechtlich zu verfolgen ist als große hierarchisch strukturierte Terrororganisationen. 

 

In der im Anschluss an Prof. Dr. Goertz‘ Vortrag durchgeführten Fragerunde stellten die Teilnehmer zahlreiche anregende Fragen. So wurde unter anderem nach Deradikalisierungsprogrammen für aus den Sicherheitsbehörden Entlassene, technischen Möglichkeiten der Strafverfolgung, strukturellen Problemen im Umgang mit Rechtsextremismus in Deutschland, sowie die Rolle der AfD im Radikalisierungsprozess der „Mitte“ gefragt.

 

Abschließend möchte sich die Hochschulgruppe Tübingen herzlich bei Prof. Dr. Goertz für den spannenden und informativen Abend bedanken und hofft auf eine erneute Zusammenarbeit in der Zukunft – mit Blick auf die Überschreitung der geplanten Vortragszeit ist das Interesse an dieser Thematik klar vorhanden.